Theaterrezensionen Frankfurter Rundschau, FNP

Frankfurter Rundschau vom 5.11.2016:

Die Poesie des Lebens in ständiger Gefahr

Von ANDREA POLLMEIER

Das Frankfurter Ensemble 9. November zeigt im Gallustheater „Warum das Kind in der Polenta kocht“. Mit fein ausbalancierter, akrobatisch-poetischer Phantasie.

Es gibt eine Art Humor, die es ermöglicht, menschlicher Not nah zu rücken, ohne voyeuristisch zu wirken. Wer so erzählt, kann wie beispielsweise Charlie Chaplin noch in Kreisen, wo schon Abstumpfung vorherrscht, Empathie wecken. Auf diese Weise hat jetzt das Ensemble 9. November (E9N) im Gallustheater das Stück „Warum das Kind in der Polenta kocht“ inszeniert.

Das Stück ist an den gleichnamigen Roman der rumänischen Autorin Aglaja Veteranyi angelehnt und schildert in einem surrealen Ton ihre Familiengeschichte, in der ihr Vater, der renommierte Zirkusartist Tandarica, zusammen mit Frau und Kindern vor der Ceausescu-Diktatur ins Ausland flieht.

In diese Zirkuswelt taucht die Inszenierung des E9N kunstvoll ein und zeigt in skurrilen Bildern aus der Perspektive des Kindes, wie es sich anfühlt, unter beständiger Gefahr zu leben. Damit das Kind seine Angst beherrschen kann, erzählt ihm die Schwester allerlei Geschichten. Zum Beispiel die von dem Kind, das sich im Polenta-Topf versteckt und plötzlich mit gekocht wird.

Die Vorstellung von dessen Schmerzen verdrängt vorübergehend die Angst um die Mutter. Diese sitzt zu Beginn der Inszenierung hoch oben auf einer Schaukel, ihr langer Haarzopf ist nach oben hin angebunden. Was zunächst nur unnatürlich wirkt, erhält durch die Erzählung seinen sadistischen Sinn: Die Szene erinnert an die Zeit, als die Mutter im Zirkuszelt hoch oben auf dem hohen Seil stand, und ihr Leben auf grausam schmerzhafte Art an ihren Haaren abgesichert wurde.

Manchmal auch brüsk

Solch versteckte oder manchmal auch brüsk gezeigte Härte findet sich in Hülle und Fülle in diesem Stück. Sie ist dem realen Leben abgeschaut, wird jedoch durch humorvolle Szenen und eine akrobatisch-poetische Phantasie in der Inszenierung unter der Regie von Helen Körte fein ausbalanciert. Vor zwölf Jahren hatte das Stück mit dem skurrilen Titel bereits Uraufführung. Man spürt in der bearbeiteten Fassung heute deutlich, dass hier nicht kurzfristig auf Zeitgeist reagiert wird, sondern eine existenzielle Verbundenheit das Thema Flucht und Vertreibung fundiert.

Helen Körte nutzt in ihrer Inszenierung die für das E9N charakteristische und ungemein vielschichtige Verbindung aus Pantomime, Tanz, Gesang, Varieté, Schauspiel (mit Raija Siikavirta, Hanna Linde, Katrin Schyns und Damaso Mendez), Bildender Kunst (Wilfried Fiebig und Mathias Kraus) und live von vier Künstlern auf zwölf Instrumenten eingespielter Musik (Komposition: Martin Le Jeune). Sie entfaltet so einen poetischen Ton, der einzigartig ist.

In dieses bunte Spiel werden Sätze aus dem Roman von Aglaja Veteranyi bisweilen wie Blitzschläge eingefügt. Sie erden die schwebende Leichtigkeit der Bühnenbilder und übermitteln so den realen Verlauf der Fluchtgeschichte. Die Erzählung entfaltet sich so an oft minutenschnell wechselnden Szenen entlang und es ist unberechenbar, was der nächste Augenblick bereithält.

Martin Lejeune, Bühnenmusik, Theatermusik, Ensemble 9. November

Frankfurter Neue Presse vom 08.11.2016:

Traumata unter der Zirkuskuppel
Von MARCUS HLADEK

Helen Körtes „Ensemble 9. November“ setzte in Frankfurts Gallus-Theater ihre Regiearbeit „Warum das Kind in der Polenta kocht“ nochmals neu in Szene. Musik, Akrobatik und Spiel vermischen sich in dem Stück „Warum das Kind in der Polenta kocht“.

Dies Stück Musiktheater, mit dem das „E9N“ 2004 in Sibiu (Rumänien) gastierte, folgt Aglaja Veteranyis Roman gleichen Titels. Der Vorname der Schweizer Autorin ist der der jüngsten Grazie. Furchtbar jung war auch sie selbst, als sie in der Diktatur Ceausescus dann mit ihrer aus Rumänien geflohenen Zirkusfamilie üble Erfahrungen machte – wie Nacktauftritte im Varieté mit 13 Jahren. Ihr Clowns-Vater missbrauchte ihre Schwester. Roman und Stück spiegeln das.

Zwar muss Veteranyi Glücksmomente voller Poesie und Magie erlebt haben, davon zehren Bühnenfassung und Regie ja. Doch jede Antwort auf die Titelfrage wird zum Abwehrzauber, den das Mädchen, ungewollt frühreif und naiv, beschwört. In seiner zauberischen Welt, wo Gott in der Erde lauert wie ein Vampir und der Himmel absurd ausgemalt wird, führten Glück und Horror zu Traumata. 2002, noch keine 40, ging die erfolgreiche Schriftstellerin in den Zürichsee.

Katrin Schyns als Mutter sitzt noch länger als Raija Siikavirta und Hanna Linde, die Schwestern, auf ihrer Trapezschaukel. Entsprechend der Zirkusnummer der am Haar schwebenden Frau sind die ihren lang und so prächtig wie ihr grün-goldenes Schnürkostüm (Margarete Berghoff). Zur Seite steht den drei auf hohem Niveau quirlig-einfallsreichen Darstellerinnen Damaso Mendez als tanzender Vater-Clown. Außerdem vier Musiker und fünf Kinder im Aglaja-Alter, die alles noch glaubhafter und heiterer machen. Martin Le Jeune (Komposition) und seine Musiker (Jens Hunstein, Clara Holzapfel, Timo Neumann) mischen Balkanklänge mit Jazz und allem, was anliegt: ein kongeniales Klangkostüm hoher Qualität, von Kontrabass und Geige über Banjo und Akkordeon bis hin zu Saxofon und Bassklarinette. Dazu Stummfilme.

Wilfried Fiebig (Bühne, Kostüme) ergänzt seine Mittel aus Metall und Kunststoff um weichen und glänzenden Stoff, multifunktionale Treppenelemente, Fahnen oder Engelsflügel und erzeugt romangemäße Bildpoesie. Schön und gelungen.

http://www.fnp.de/nachrichten/kultur/Traumata-unter-der-Zirkuskuppel;art679,2309725